Portugal – Erstes Experiment der Welt: Bürger bestimmen mit über Ausgaben des Staatshaushalts
Erster nationaler Bürgerhaushalt - Ein allgemeiner Haushaltsanteil, einer für Jugendliche und einer für Schulen
Wie alles begann
Seit Anfang der Jahre 2000 praktizieren viele Städte Portugals Bürgerhaushalte. Heute ist das Land Weltmeister in der Anzahl solcher städtischen Bürgerhaushalte.
Ein Bürgerhaushalt ist ein Anteil, üblicherweise der städtischen Finanzen, über den die Bürger selbst bestimmen können. Es werden dafür Strukturen und Prozesse festgelegt. Sie verlaufen von der Vorschlagsphase, über Beratung bis zu gemeinsamen Entscheidungen.
Aus Portugals Erfahrung erwuchs ein ehrgeizigen Ziel: Das erste Land der Welt zu sein, dass seine Bürger auch über einen Teil des Staatshaushalts mitentscheiden lässt.
In einem Interview erläuterte 2018 die damalige Staatssekretärin für Verwaltungsmodernisierung Graça Fonseca die Ziele dieses Experiments: „Den Menschen die Politik näher bringen sowie engere Beziehungen und eine stärkere Integration der Regionen fördern, und zwar mit Hilfe nationaler Projekte.“
Und so funktioniert es
Seinen ersten nationalen Bürgerhaushalt (NB) legte Portugal 2017 auf – mit drei Experimenten zugleich: einem allgemeinen NB, einem für Jugendliche und einem weiteren für Schulen.
Schon 2018 wurden die ursprünglich drei Millionen Euro des ersten NBs auf fünf Millionen aufgestockt.
Ein Team der Regierungsverwaltung bereiste das Land und die autonomen Regionen, um sich mit Bürgergruppen zu treffen.
2017 wurden 599 regionale und nationale Projekte, 2018 insgesamt 692 Projekte zur Abstimmung gebracht. Abstimmen konnten die Bürger online bzw. mit Hilfe eines SMS Systems.
Während 2017 fast 80.000 Menschen an der Abstimmung teilnahmen, wuchs diese Zahl 2018 auf 120.000.
Zu den Gewinnern gehörten kulturelle Projekte wie etwa der 35 km lange Weg für kulturelle und ethnographische Bildung, Route da Arcês oder die Buchspende-Plattform Livrar.
Weitere Sieger-Beispiele sind Initiativen in den Bereichen Gesundheitsbildung und Bildung und Wissenschaft wie beispielsweise ein Ökowissenschaftliches Projekt.
Portugals NB für Jugendliche möchte junge Menschen zwischen 14 und 30 Jahren zur Teilnahme an politischen Prozessen ermuntern, das Handwerk des „Mitregierens“ zu erlernen und Verantwortung zu übernehmen.
Fünf der sieben Siegerprojekte bezogen sich auf Umwelt und Nachhaltigkeit (2017); je eines gewann in den Bereichen Wissenschaftsbildung bzw. Integrationssport. Die acht weiblichen und zwei männlichen Projektinitiatoren waren zwischen 15 und 28 Jahren alt.
Zu den Siegern gehörte das Große Buch des Parks, ein facettenreiches Multi-Media Projekt, welches Interesse an der Natur und ihrer Erhaltung fördern soll. Durch simulierte Feldforschung werden Besucher selbst zu „Forschern“. Sie können Arten entdecken, lernen, wie man die Natur im Detail beobachtet und an Initiativen zum Schutz der biologischen Vielfalt teilnehmen.
Der NB für Schulen wurde den Schulen und Hochschulen direkt zugewiesen. Auf diese Weise können Schüler lernen, gemeinsam zu entscheiden, wofür sie das Geld ausgegeben wollen.
Für 2019 wurden die Nationalen Bürgerhaushalte ausgesetzt. Die Zeit und Mittel werden genutzt, um noch ausstehende Projekte aus 2017 und 2018 umsetzen zu können.
Vertrauen bilden
Ein Hauptgrund für dieses nationale Experiment war der Wunsch der Politik, das Vertrauen der Bürger zu gewinnen, insbesondere nach Jahren wirtschaftlicher Schwierigkeiten. Wenn Regierungen kein Vertrauen geniessen, gehen Menschen oftmals nicht zur Wahl, weil sie meinen, damit ohnehin nichts verändern zu können.
Bürgerhaushalte halten Menschen nicht nur dazu an mitzustimmen, sondern auch aktiv bei öffentlichen Entscheidungen mitzuwirken.
Was ist nun anders?
Portugal ist das erste Land der Welt, das jemals einen Bürgerhaushalt auf nationaler Ebene ausprobiert hat.
Laut Graça Fonseca sind der direkte Kontakt mit den Menschen, sowie Bürger für gemeinsame Entscheidungen zusammen zu bringen bedeutende Elemente, welche die traditionelle Politik nicht bietet. Ein Mitarbeiterteam der Regierung kommunizierte zudem direkt mit den Projektinitiatoren, um sie zu bestärken, die Verantwortung für ihre Ideen voll zu übernehmen.
Mögliche Verbesserungen?
Wie bei jedem Experiment gibt es auch hier Verbesserungspotential.
Portugal hat langjährige Erfahrungen mit lokalen Beteiligungsprojekten für Bürger. Auf lokaler Ebene ist es leichter, neue Beziehungen zwischen Institutionen und der Bürgergemeinschaft herzustellen. Die nationale Regierungsebene ist dagegen für viele eher ein abstraktes Gebilde. Wie können also Kommunikationswege auch hier noch verbessert werden?
Beobachter schlagen neue zwischengeschaltete Einrichtungen auf regionaler Ebene vor. Diese könnten zudem benachteiligte Gebiete besser berücksichtigen und Menschen einbeziehen, die keinen Zugang zur digitalen Welt haben.
Und die Erfolge?
Die Tatsache, dass Portugal die ersten nationalen Bürgerhaushalte, noch dazu drei dieser Art weltweit ins Leben gerufen hat, ist ein Erfolg and sich.
Einer der größten Erfolgsfaktoren war, dass Regierungsmitarbeiter über den gesamten Prozess im Dialog mit Bürgern blieben und mit den Initiatoren der bestbewerteten Projekte direkt zusammen arbeiteten.
Durch ihr Engagement im Rahmen der NB, werden Bürger dazu angehalten, Netzwerke zu bilden. Der Wettbewerb zwischen den Ideen nicht organisierter Bürger hat dazu geführt, dass selbst-organisierte neue Netzwerke entstanden.
Die Menschen erleben, dass Ihr Einsatz und ihr Votum über eingereichte Initiativen etwas bewirkt.
Wenn die Portugiesische Regierung ihre Arbeit an den Entscheidungsprozessen über die NB fortsetzt und weiter optimiert, werden sich die Bürger ernster genommen fühlen und mehr Vertrauen in politische Prozesse gewinnen. Sollte aus dem Experiment gar eine Tradition werden, wird dies eine transformative Wirkung auf die Politik zum Nutzen aller haben.