Vorarlberg, wo Bürgerbeteiligung Verfassungsrang hat

Die Tradition, viele Menschen an Entscheidungsprozessen zu beteiligen, führt zum Verfassungsrecht auf Bürgerpartizipation.

 

 

Wie alles begann

Was als Umweltinformationsdienst begann, wurde 1999 zum Büro für Zukunftsfragen im österreichischen Bundesland Vorarlberg.

Ziel war, Menschen anzuregen, ihr Verhalten zugunsten einer gesunden Umwelt zu ändern. Hierzu war die Zusammenarbeit Vieler erforderlich. Also begannen zuständige Akteure, mit Bürgern netzwerkartig zusammen zu arbeiten.

Hierdurch wurden Selbstorganisations-Prozesse ausgelöst, die zur heutigen Kultur der Bürgerbeteiligung im Lande geführt haben.

Und wie funktioniert das?

Vorarlberg soll das kinderfreundlichste Land Österreichs werden! Dies wurde 2004 beschlossen. Zur Bürgerbeteiligung organisierte man eine Planungszelle mit 80 Bürgern, die über eine Woche beriet.
Zeitgleich arbeitete eine Expertenkommission an demselben Thema. Das Ergebnis: 95 % der Ergebnisse waren deckungsgleich; die Vorschläge der Bürger jedoch lebensweltlicher durchdacht und breiter legitimiert.

So überzeugend das Ergebnis war; der Kostenaufwand war zu hoch. Als kosteneffizienter erwies sich der Bürgerrat.

Ein Bürgerratsprozess gliedert sich in vier Stufen:

– Ein 1,5-tägiger Beratungsprozess, an dem 20-30 Bürger unter Anleitung von neutralen Prozess-ModeratorInnen teilnehmen.
– Anschliessend werden im Bürgercafé die Ergebnisse öffentlich präsentiert und vertiefend diskutiert.
– Hiernach berät eine Resonanzgruppe mit betroffenen institutionellen Akteuren über die praktische Verwertung der Ergebnisse.
– Eine zusammenfassende Dokumentation wird an Landesregierung, Landtag und die Vorarlberger Gemeinden gesandt. Diese verfassen eine Rückmeldung über die nun eingeleiteten Maßnahmen.

Bürgerräte können sowohl von Seiten der Politik als auch von Bürgern einberufen werden. Für letzteres bedarf es 1.000 Unterschriften von Menschen ab 15 Jahren mit Wohnsitz im Bundesland. Politiker können hierdurch aufgefordert werden, bestimmte Themen aufzugreifen.
Die Auswahl der Bürger findet per Losverfahren statt.

Erfolg und Akzeptanz sind so hoch, dass 2013 die Verpflichtung zur partizipativen Demokratie in die Vorarlberger Landesverfassung aufgenommen wurde. Eine Richtlinie hierzu regelt die Anwendung von Bürgerräten.

Was das Ziel „kinderfreundlichstes Bundeslandes“ angeht, wurden übrigens zahlreiche Kinderprojekte ins Leben gerufen und ganz neue Verwaltungsstrukturen geschaffen.

Grundüberzeugungen hinter dem Modell

In Vorarlberg sind sich Politiker partei-übergreifend einig: Die Eigenverantwortung der Bürger muss gestärkt werden! Und: Entscheidungen sollten dort getroffen werden, wo dies am sinnvollsten ist (Stichwort Subsidiarität).
Viele Seiten an Entscheidungen zu beteiligen, hat in Vorarlberg Tradition. Bürger mit einzubeziehen, war da nur ein nächster Schritt.

Es gibt auch pragmatische Gründe für Bürgerbeteiligung. Die Bedeutung von politischen Parteien und von Sozialpartnern nimmt ab. Wenn man die Bürger einbezieht, fallen Entscheidungen auf breiter Basis und legitimieren das politische Vorgehen.

 

Was sich verändert hat

Die politische Kommunikation hat sich seither in Vorarlberg verändert. Der Chef der Landesregierung, der Landeshauptmann, bietet Sprechstunden nicht nur in der Landeshauptstadt, sondern landesweit an. Auch Gemeinden finden neue Kanäle, um Bürger besser zu informieren.

Zu den Eigenheiten von Vorarlberg gehört, dass man sich im Bundesland mit knapp 400.000 Einwohnern kennt. Das erlaubt kurze Entscheidungswege – ein Phänomen, das anderswo zu Missbrauch führen kann.
Die verfassungsmäßige Verpflichtung, eine breite Basis einzubeziehen, wirkt dem entgegen.

Durch die Tradition der Zusammenarbeit ist hier zudem die Kluft zwischen Stadt und Land geringer ist als anderswo.

Die Herausforderungen

Trotz der Verpflichtung zu mehr Eigenverantwortung für Bürger, zeigen sich in der politischen Praxis noch Schwächen.

Es braucht weitere Überzeugungsarbeit, damit für Politiker zur Normalität wird, sich von Bürgern genauso beraten zu lassen wie von Interessengruppen.

In Vorarlberg wird deshalb weiter experimentiert.

Nach dem Bürgerrat zum Mobilitätskonzept räumte man 2018 den Bürgern erstmals eine Feedback-Runde ein: In einem Workshop konnten sie überprüfen, ob ihre Vorschläge hinreichend berücksichtigt worden waren.

Bürger, Politik und Verwaltung empfanden solch’ transparentes Vorgehen als sehr konstruktiv.

 

Agilität in der Politik?

Unterschiedliche Kooperationsformate zwischen verschiedenen Gruppierungen, die Arbeitsweise mit Projektgruppen, einem Prozessmoderatoren-Pool und Online Plattformen wie Vorarlberg Mitdenken erlauben in Vorarlberg zügige flexible Entscheidungen in einer komplexen Welt.

Wirkungen und Erfolge

Die Beharrlichkeit, mit der hier seit Jahren Bürgerbeteiligung praktiziert wird, hat zu einer kontinuierlichen Demokratie-Entwicklung geführt.

Wenn der genaue Auftrag von Bürgerräten zuvor klar fest gelegt wird, werden Enttäuschungen vermieden: Die Bürger kennen ihren Handlungsspielraum und die Politiker erklären vorab, inwiefern sie die Ergebnisse der Bürger berücksichtigen werden.

Es wächst eine jüngere Generation von Politikern heran, die Bürgerbeteiligung als Selbstverständlichkeit und Chance sehen.

Das Büro für Zukunftsfragen begleitet kontinuierlich viele Beteiligungsprozesse. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Mitarbeiter die Bürgerbeteiligung betrachten, trägt zur Normalisierung dieser Form von Politik bei. Immerhin ist das Büro dem Regierungschef von Vorarlberg direkt unterstellt.


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